Man kann’s bald nicht mehr hören: „Bildungsoffensive“, „lebenslanges Lernen“, „bildungsferne Schichten“ – ein beliebtes Thema beliebiger Tiefsinnigkeit. Und doch: da steckt etwas dahinter das man nur als perfide und diskriminierend bezeichnen kann. Machen wir uns die Mühe und schauen genauer hin:
1. Was ist „Bildung“ im Sinne dieser Proklamationen?
Lassen wir die vielen theoretischen Begriffsdefinitionen und das weite Spektrum der damit gemeinten Begriffe außen vor, das verstellt nur den Blick auf die jetzige Analyse.
Bildung wird reduziert auf (vor allen Dingen beruflich und damit vorrangig wirtschaftlich nutzbares) geistige Fähigkeiten wie Lesen/Schreiben/Rechnen (Stichwort: „PISA-Studie“) und fachliches Sonderwissen (dem „technischen Fortschritt“ geschuldet).
Alle anderen Ansätze, egal ob religiös, philosophisch oder soziologisch sind für die hier interessierende politische „Herausforderung des 21. Jahrhunderts auf dem Weg in die Wissensgesellschaft“ von eher nur folkloristischer Bedeutung. Es macht sich immer gut, Herder zu zitieren … ohne ihn wirklich zu meinen.
2. die Perfidie des Verlangens nach nie endender Bildung
Mit dieser Orientierung an „verwertbaren Ergebnissen“ der Bildung für Familie, Beruf und Karriere wird den Menschen ein Tort angetan. Denkt man diese Herausforderung des „lebenslangen Lernens“ gemeint als dauernder Neuerwerb weiteren Wissens weiter, ist ihr Scheitern darin angelegt.
Die erste Perfidie ist, daß denklogisch jeder Mensch an diesem Anspruch scheitern muß. Niemand kann unendlich lernen, selbst die weisesten Köpfe der Menschheit mußten sich auf einzelne Sektoren des gesamten theoretisch möglichen Wissens beschränken. Je länger also der Vorgang des „Bildens“ andauert, desto spezialisierter wird das Wissensgebiet werden. Jeder erreicht also sein eigenes Niveau des „Fachidiotentums“ – sei es als besonders qualifizierter Techniker, Produktionsmitarbeiter, kaufmännischer Mitarbeiter.
Die zweite Perfidie: Bildung ist dann immer mehr Hemmschuh als Hilfsmittel, denn je spezialisierter ein Mensch gebildet ist, desto unflexibler wird er. Auf einem anderen als seinem Spezialgebiet hat er ja den Vorteil der vorherigen Bildungsarbeit nicht mehr, er reiht sich unten in der Pyramide der Bildungshierarchie wieder ein. Das ist Verlust an Lebensleistung und an Sicherheit, nicht zuletzt auch an ökonomischem Gewinn aus der Bildungsarbeit.
Bildung bewirkt also auf diese Art falsch verstanden eine Erstarrung der Gesellschaft. Das entfernt sie von den ursprünglichen Idealen und hat somit perverse Ergebnisse.
Die dritte Perfidie ist, daß auf diese Art sich korrekt verhaltende „Spezialsachbearbeiter“ der irrigen Annahme aufsitzen, daß Fachwissen gleichbedeutend mit Führungsqualität sei. Getreu dem Motto: Mein Vorgesetzter ist nur deshalb mein Chef, weil er mehr weiß als ich. Nein, genau das ist nicht die Qualifikation eines Vorgesetzten. Das ist die Qualität eines Dozenten, der ausschließlich dazu da ist, Wissen zu vermitteln und Hörer zu befördern. Diese verquere Selbsteinschätzung der zu Bildung Angespornten Spezialsachbearbeiter ermutigt zu fleißigem Sachbearbeitertum, nicht aber zur Führungspersönlichkeit. Diese Schwelle überschreiten immer weniger und damit steigt die Reichweite der wenigen, die dann noch echte Vorgesetzte sind. (Ob das auch die Erklärung dafür ist, daß die sich die Taschen immer hemmungsloser immer voller stopfen? Eine überlegenswerte These!)
3. die Diskriminierung durch das Verlangen nach moderner Bildung
Jeder muß (mindestens sein Berufs-) Leben lang lernen. Er muß weiter kommen, mehr wissen, Dinge besser können, mehr Dinge schneller erledigen können. Ausgesprochen oder unausgesprochen ist das die Idee der Bildungsoffensiven welcher Couleur auch immer.
Eine schöne Illusion, die sich wunderbar und vermeintlich menschenfreundlich allenthalben verbreiten läßt. Wer kann da schon etwas dagegen sagen? Es klingt so positiv und zukunftsorientiert. Noch ein paar wirre Drohbilder von ameisenfleißigen Milliardenheeren an Chinesen und Indern, die sich aufmachen, die Welt zu erobern und sich untertan zu machen – fertig ist das politisch perfekte und nahezu unangreifbare Postulat. Niemand von ganz links bis ganz rechts schreitet ein und tritt dieser Diskriminierung entgegen.
Machen wir uns nichts vor: Lernfähigkeit und Lernwilligkeit sind nicht gleich verteilt. Einigen fällt fast alles leicht (in der Schule waren die sogar in Sport gut und nicht nur in Physik, Mathe, Geschichte, Latein und Französisch). Manchen fällt sehr viel leicht und für manche kommen mit etwas Anstrengung in der Regel ordentlich mit und ein nicht unerheblicher Teil ist mit Lernen schon seit der Schule auf dem Kriegsfuß. Eine ganz gewöhnliche Normalverteilung, wie sie für die Menschheit unvermeidlich ist.
Nicht aber für die Protagonisten der derzeitigen Bildungsbewegung. Die behaupten und unterstellen nämlich (unausgesprochen aber als zwingende Annahme der Behauptung), daß jeder Mensch in gleichem Maße gebildet werden können muß. Unabhängig von Stand und Vermögen – weshalb es dann auch leicht ist, gleich die Korrelation von Bildung und Einkommen anzuprangern, wenn’s der eigenen Argumentation dient.
Die Welt ist aber nicht so. Selbst mit herausragender Pädagogik ist eine einheitliche Lernfähigkeit und erst recht Lernerfolg nicht zu erreichen. Mit steigenden Anforderungen wird es immer mehr Menschen geben, die nicht in der Lage sind, damit Schritt zu halten.
Nicht drum herum geredet: Das Verlangen nach lebenslangem Lernen diskriminiert diejenigen, die davon überfordert sind und schließt sie zwingend von Teilhabe am Erfolg aus. Je anspruchsvoller das Bildungsverlangen (gerichtet vorrangig an die Werktätigen) im Laufe der Zeit werden wird (werden muß), desto mehr Menschen werden diesen Weg nicht (mehr) mitgehen können.
Das ist vielleicht einer Eigenanalyse der Betroffenen nicht so zugänglich, aber die Symptome dieses Abkoppelns werden dort sehr wohl und sehr fein verstanden. Berufliches Fortkommen ist das Pendeln zwischen Sozialbezug und eigenem Erwerbseinkommen ohne Aussicht auf soziale Anerkennung durch beruflichen Aufstieg. Mangels solchen Aufstiegs ist die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit spürbar geringer, der Lebensstandard kann allenfalls gehalten aber keinesfalls gesteigert werden.
Die noch dem Bildungszuwachsanspruch Gewachsenen müssen von ihrem sauer Verdienten einen immer größeren Teil für Transferleistungen des Staates abgeben, um diese „bildungsfernen Schichten“ zu alimentieren und auf diese Art auch zu sedieren. Gleichzeitig ziehen sich diese erheblichen Bevölkerungsschichten immer mehr von der Teilnahme am Voranbringen der Gemeinschaft zurück und entwickeln eigene Strategien der bestmöglichen Einrichtung in einem immer mehr unverstandenen System.
Diese Diskriminierung erfaßt immer mehr Menschen, was sich konsequent so entwickeln muß. Steigende (zwingend spezialisierende) Anforderungen an zusätzliche Bildung produzieren immer mehr diesen Anforderungskanon nicht mehr Gewachsene und gleichzeitig werden die von den noch im System des Bildungsaufstiegs unterhaltenen Systeme immer komplizierter und komplexer. Der Blick auf einen übergeordneten Zusammenhang wird immer mehr verstellt durch in der Priorisierung vordringliche Detail- und Ausführungsfragen.
Verwaltung statt Führung, Apodizismen statt (immer schwerer vermittelbarer) Erklärung sind die Folge. Nicht umsonst wird dann von „alternativlosen“ Situationen gesprochen.
4. das Verlangen nach vor allem beruflicher Bildung schwächt statt zu stärken
Die gerade parteiübergreifend in der „demokratischen Mitte“ von Grünen bis CSU unisono postulierte „zukünftige Wissensgesellschaft“ führt also zu perversen Ergebnissen und schwächt die Leistungsfähigkeit der Gesamtgesellschaft anstatt sie zu fördern.
Die steigende Zahl der unzufrieden Abgekoppelten verweigert sich dem System, das ihnen keine Teilhabe (mehr) eröffnet und sucht Fluchten. Genau das ist der Boden, den Bauernfänger an den Rändern für sich bereitet wissen wollen. In einer wissensabgewandten Bevölkerung sind die für das technoid-spezialisert argumentierende Verwaltungswesen und seine komplexen Prozesse der Meinungsbildung erforderliche Detailkenntnisse der Fakten irrelvant. Ein neuer Raum der bildungsabgewandten „fake news“ und auch der das stimulierenden Einmischung in die Meinungsbildung durch übelwollende Fremde ist eröffnet.
Das ist auch – nicht alleine! – der fruchtbare Boden, auf den der Samen der Rechtspopulisten fällt und keimt. Das ist auch der Grund, warum dieses Mal die Dinge anders liegen als zu Zeiten der Republikaner und dieses Phänomen nicht mit den Mitteln von damals eingedämmt werden kann. Manche verstehen das vielleicht nicht und handeln dann dumm mit unerwünscht negativem Ergebnis für den so sehr gewollten eigenen Erfolg.
5. wenn schon, dann richtig
Bevor das umfassende Verständnis der Bildung zuschanden kam, hatte der Grundansatz etwas Einnehmendes. Bildung war eben gerade nicht nur auf unmittelbaren ökonomischen Gewinn aus, sondern trachtete nach geistiger Zerstreuung. „Bildende Kunst“ in jedwelcher Form und sei es in der Schönheit von Gebäuden, Stadtentwürfen oder Gemälden und Statuen, Möbeln, Kleidung erfreut jedermann und hebt den Geist. Sie ist aus dem großen öffentlichen Raum verdrängt, sie fördert kein Zusammengehörigkeitsgefühl mehr. Die Gewalt der Literatur und des Theaters ist reduziert auf „blockbustertaugliche“ Formate, die leicht konsumiert und schnell vergessen sind. Musik ist zum Download verkommen, nur ganz wenige und immer weniger stechen aus der Masse der gleichförmig-schlichten einer echten Bildung fernen „Unterhaltungserzeugnisse“ noch heraus. Stattdessen inszeniert jeder sich und öffentlicher Narzissmus der Selfie-Gesellschaft hat diese Kulturform ersetzt.
Sobald dieses Manko einer öffentlichen Bildung im öffentlichen Raum aufgeholt ist, wird sich der Rest von alleine ergeben – sogar bis hin zu einem ökonomischen Nutzen. Wenn sich alle wohler fühlen, werden sie lieber und besser arbeiten , wenn durch eine wohlverstandene „allgemeine Bildung“ die Bedeutung des ökonomischen Erfolges die unbedingte und unerbittliche Priorität einbüßen, wird die befreite Seele sich wieder dem Gemeinsamen zuwenden können.
Das soll nicht das drängende Problem der verarmenden Vorstädte herunterspielen, aber schon alleine das einem Bildungsideal möglichst entsprechende Wohnumfeld schafft ein anderes Klima für die Bewohner und bewirkt eine Umorientierung. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts war das die Siedlungsbewegung, die z.B. Orte wie Köln-Bickendorf, die Junkers-Siedlung in Dessau oder Limburgerhof in der Pfalz zu einer eigenen Blüte brachte. Alleine „Licht, Luft und Bäumchen“ statt der Gewaltformensprache moderner Hochhausvorstädte (Köln Chorweiler, Berlin Marzahn usw.) würde an der Haltung der Bewohner mehr ändern als jede staatliche Bildungsmaßnahme für alles Geld der Welt.
Darauf aufbauend eine auf nicht nur berufliche Bildung und Verwertbarkeit aufbauende humanistische Schulbildung mit Lehrplänen nach Maßgabe der Leistungsfähigkeiten der unterschiedlichen Menschen – die konsequente Fortschreibung dieser umfassend verstandenen Bildung wäre wieder ein europäisches Novum für die Welt. Und enthöbe uns der Auseinandersetzung im industriell geprägten Wettlauf der Kontinente um „Bildungsführerschaft“ im beklagenswerten derzeitigen Verständnis.